Komplementarität

Leicht zu verstehen. Nur nicht einfach zu beherzigen. Jedenfalls nicht, solange ich mich zu behaupten suche. Und das tue ich, solange ich mich gedanklich und mental verletzbar fühle. Früher fühlte ich mich oft (nicht körperlich!) angegriffen. Wahrscheinlich dachte ich, dass ich meinen mentalen „Besitz“ verteidigen müsste.

Der Grund für diese Situation ist darin zu sehen, dass wir Menschen nicht mehr nur in der Welt der Natur leben, sondern uns parallel dazu eine gedankliche Welt aufgebaut haben, die wir bisher in der Regel nach mechanistischen Strukturen und Grundsätzen organisieren.

Die Schwierigkeit ist nur, dass viele Phänomene des Menschlichen mit den Prinzipien dieser gedanklichen Welt nicht in Einklang stehen, einfach deswegen, weil sie in die Welt des Natürlichen gehören. Nur beide Welten sind bislang nicht kompatibel, was all die Konflikte in und auf der Welt erklärt. Man sieht nur den Menschen und sein Verhalten, jedoch nicht, was in ihm vorgeht.

Seit die Physik, auf der das Weltbild der Menschen ja aufbaut, selbst erkannt hat, dass das von ihr angenommene Verständnis von der Welt unzulänglich ist und die Welt ganz anders „funktioniert“, haben wir dank der Erkenntnisse der Quantenmechanik nicht nur faszinierende neue technische Möglichkeiten, sondern auch ein wesentlich realistischeres Weltbild; also ein Weltbild, das den tatsächlichen Begebenheiten wesentlich näher kommt als die klassische Physik, in der die Welt als fragmentiert angesehen wird.

Das stimmt, aber nur oberflächlich. Will ich etwas wirklich verstehen, dann muss ich eben tiefer graben – und mich auf das Weltverständnis der Quantenmechanik einlassen. Von „Weltbild“ kann ich solange nicht sprechen, solange es keine philosophische Integration in das eigene Denken gibt. Aber die ersten Schritte gibt es schon, etwa mit dem Verständnis von Komplementarität, das auf Niels Bohr zurückgeht, das von dem Gedanken ausgeht, dass das Sein ein Werden ist. Vielleicht die Erkenntnis der Quantenmechanik, die aber unter all den technischen Aspekten leicht untergeht.

Ein Sprung in die Vergangenheit: Laotses Weltbild besagt, dass das bewegte weiche Wasser mit der Zeit den festen Stein besiegt, also das Harte unterliegt. Genau das wollte auch Bohr mit dem Gedanken ausdrücken, dass das freie, bewegliche Denken mit der Zeit das bestimmte Sein besieht, da das Festgesetzte unterliegt. Spannend, dass hier die moderne Wissenschaft uralte Weisheiten zu bestätigen scheint oder es sogar tut.

Victor Weisskopf, ein Assistent von Bohr, war der Ansicht, dass Komplementarität zwischen wissenschaftlichen und andersartigen (mystischen) Zugängen zu menschlichen Problemen vermitteln kann und dass darin eine Brücke zwischen den grundlegend verschiedenen Betrachtungsweisen menschlicher Erfahrung gesehen werden kann. Eine Brücke zwischen Kunst und Wissenschaft. Das letzte Kapitel in seiner Autobiographie trägt den Titel „Mozart, Quantenmechanik und eine Bessere Welt“. Wobei ich Bach Mozart vorziehen würde.

Den Gedanken der Komplementarität finden wir nicht nur in Goethes Farbenlehre, sondern auch in der Beschreibung der Natur, die für uns Rohstoffquelle und „Mutter Erde“ ist (oder sein sollte); genauso wie ich etwas mit dem Kopf wie mit dem Herzen verstehen kann. Wir Menschen verfügen über beide sich wie Yin und Yang ergänzenden Möglichkeiten. Die Schwierigkeit ist nur zu sehen, dass diese Pole (?) des menschlichen Lebens sich oft scheinbar diametral entgegenstehen.

Es ist nicht einfach, in dieser Widersprüchlich- und Gegenseitigkeit das Gemeinsame und Verbindende zu sehen – jedenfalls solange von einem unzutreffenden Weltbild (weil reduktionistisch) ausgegangen wird. Ich finde, man kann dies relativ gut an einer Beziehung beschreiben. Ich sehe mich, meine Frau sieht sich, ein Dritter die Beziehung, aber er kann weder meine Frau noch mich sehen und was in uns vorgeht. Das weiß nur sie für ihre Person und ich für meine, unsere Beziehung aber können wir beide nicht sehen.

Wir Menschen würden definitiv in einer besseren Welt leben, wenn wir uns immer wieder vergegenwärtigen würden, dass es zu der eigenen Ansicht eine andere gibt, die ihr zwar widersprechen kann aber gleichwohl ebenso Gültigkeit beanspruchen kann.

Das stimmige Kommunikationsmodell für Komplementarität ist der Dialog, der keinen Konsens sucht, sondern auch sich widersprechende Aussagen gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben; also nicht versucht wird, sich in der Mitte zu treffen, sondern nur bestrebt ist den anderen wirklich zu verstehen, was ja nicht bedeutet, einverstanden zu sein. Doch wenn man sich im Dialog wirklich begegnet, entsteht meist etwas Neues, jedoch nicht, wenn versucht wird, das zu definieren.

Es ist Ausdruck der Selbstorganisation, die auch für uns Menschen gilt, die im Stillen, im Denken durch NichtDenken vor sich geht. Es ist nur notwendig, dem den Raum zu geben. Das tun wir in dem Augenblick, in dem wir über Wahrscheinlichkeiten statt über (vermeintliche) Tatsachen sprechen. Wie schon gesagt: Das Sein ist ein Werden.

Das Komplementaritätsprinzip besagt also, dass zwei methodisch verschiedene Beobachtungen (Beschreibungen) eines Vorgangs (Phänomens) einander ausschließen, aber dennoch zusammengehören und einander ergänzen. Als Beispiel aus der Quantenmechanik dient vielfach der Sachverhalt, dass eine gleichzeitige Bestimmung von Wellen- und Teilchencharakter des Lichts nicht möglich ist, sondern je nach Versuchsanordnung die eine oder die andere Eigenschaft hervortritt.

Wellen- und Teilcheneigenschaften können durch zwei verschiedene, komplementäre Beobachtungssätze (komplementäre Observablen, Welle-Teilchen-Dualismus) beschrieben werden – die aber nur zusammen ein Bild des Ganzen geben. Wie bei meiner Frau, mir und unserer Beziehung. Oder nehmen Sie meine Tochter, mich und unsere Beziehung. Das selbe Spiel.

In der Komplementarität liegt ein Weg zum Verständnis von Beziehungen und zur Lösung von darin auftretenden Konflikten. Das darf nicht vergessen und auch nicht übersehen oder gar ignoriert werden. Die Kunst ist wohl, sich darauf einzulassen, wird durch die Komplementarität die implizite Einheit als explizite Zweiheit erfahrbar – und eben kein gewöhnlicher Dualismus.

Es geht um nicht weniger als die Qualitäten eines Alexis Sorbas und eines Buddha als Ausdruck des Einen zu verstehen.