Propriozeption

Es lohnt sich, dieses Phänomen einmal genauer zu untersuchen. Hier erst einmal der körperliche Aspekt.

Fehlt die Propriozeption, nehme ich ein drittes Standbein, um sicher zu sein, nicht umzufallen. Fehlt sie nicht, nehme ich gleichwohl ein drittes Standbein zu Hilfe, verliere ich mit der Zeit die Fähigkeit, mich mittels Propriozeption sicher zu bewegen.

Erst einmal die Frage: Was ist Propriozeption? Die Propriozeption zählt nicht zur Wahrnehmung der Außenwelt, der Exterozeption. Die Propriozeption umfasst jene Empfindungen, die einem Lebewesen die Wahrnehmung des Körpers nach dessen Lage, Stellung und Bewegung in Raum und Zeit ermöglichen, und ist eine Eigenempfindung.

Ohne diese Eigenwahrnehmung kann ich mich nicht sicher im Raum bewegen, wozu auch das Zeitempfinden dazugehört. Ich kann mich in keinem Raum bewegen, ohne gleichzeitig auch ein Zeitempfinden zu haben.

Ganz deutlich merke ich das, wenn ich mir morgens die Hosen anziehe. Mache ich es im Stehen oder im Sitzen? Oder suche ich mich an etwas festzuhalten? Das erste Mal ist mir das vor etwa 10 Jahren nach einem Krankenhausaufenthalt aufgefallen; ich brauchte etwas zum Festhalten, um nicht umzufallen.

Also entwickelte ich die Propriozeption wieder. Heute brauche ich die Absicherung nicht mehr, ich falle beim Anziehen nicht mehr um oder muss mich nicht mehr hinsetzen. Propriozeption kann ich also nicht trainieren, sondern wenn sie da ist, ist sie da, wenn nicht, nicht. Dann kann ich sie entwickeln, jedoch weder üben noch trainieren. Das nur so am Rande.

So, wie es eine körperliche Propriozeption gibt, gibt es auch eine geistig-mentale. Habe ich diese Form der Propriozeption nicht zu dem entwickelt, was möglich wäre, benutze ich auch hier Krücken. Dabei ist die Herausforderung zu sehen, dass ich überhaupt Krücken oder sonstige Hilfen benutze, um den sicheren Stand nicht einzubüßen.

Sind die Krücken – für mich – ganz normal und selbstverständlich, nehme ich sie als solche gar nicht mehr wahr. Diese „Krücken“ sind Konzepte, Modelle und Vorstellungen, die ich nicht mehr hinterfrage, eben, weil sie ganz „normal“ sind.

Fehlt mir die körperliche Propriozeption, kann ich mich nicht so in Raum und Zeit bewegen, wie ich es eigentlich könnte, das heißt Raum und Zeit schrumpfen in Bezug auf die Möglichkeiten, mich zu bewegen.

Und exakt so ist es auch mit „meinem“ geistig-mentalen Raum-Zeit-Kontinuum, es schrumpft, wenn ich mir nicht bewusst bin, dass ich Krücken oder andere Hilfsmittel benutze. Mir dessen bewusst zu werden ist das Eine.

Das Andere ist, dass Propriozeption eine Raum-Zeit braucht, in dem sie existieren kann. Auf der Körperlichen Ebene ist das gut zu merken. Wenn ich mich durch eine Störung ablenken lasse, schwindet die Fähigkeit zur Propriozeption unmittelbar.

Nicht anders ist es bei der geistig-mentalen Propriozeption. Auch die schwindet, sobald sie gestört wird, etwa durch oberflächliches oder konventionelles Gerede, das die sokratischen Filter ausblendet (Wahrheit, Güte und Notwendigkeit); genauso wie sie durch äußere Unordnung gestört wird, den geistig-mentale Propriozeption braucht Ästhetik, so wie die körperliche Raum und Zeit braucht.

In Japan wird dieser „Raum“ Yūgen genannt, die geheimnisvolle Tiefe der Existenz.