Über das Offensichtliche hinaus denken

Es ist notwendig, einen neuen Zugang zu den Dingen zu finden. Nur dann kann ich ihnen überhaupt gerecht werden. Immer wieder sind die Schattenseiten der Wissenschaft und der darauf aufbauenden Technik in der Menschheitsgeschichte zu erleben gewesen. Zuletzt sehr deutlich an Einsteins Erkenntnis, dass e=mc2, eine Erkenntnis, die in letzter Konsequenz zur Konstruktion von Kernwaffen geführt hat – was aber gerne ausgeblendet wird.

Auch hier gilt wie in der Medizin: Keine Wirkung (der ja eine Erkenntnis vorausgeht) ohne Nebenwirkung. Es ist nun einmal so, dass, um mit Faust zu sprechen, die bösen Seiten des Guten und die guten Seiten des Bösen durch den Menschen nicht durch den Einsatz seiner Vernunft kontrolliert werden können.

Wolfgang Pauli hatte möglicherweise einen besonderen Bezug zu den Schattenseiten von Erkenntnissen, ging doch in seiner Gegenwart manches zu Bruch (Pauli war „nur“ theoretischer Physiker!), was ihn seinen Kollegen unheimlich erscheinen ließ und ihm auch ein Betretungsverbot für ein Labor einbrachte.

Ich selbst habe immer wieder erkennen müssen, dass mir Erkenntnisse den Zugang zu einer Fülle von Möglichkeiten eröffneten – im Positiven wie im Negativen. Faust und die Taoisten haben da ganz offensichtlich recht, dass Gutes und Böses öfters gleichzeitig die Bühne betreten. Kommt der Eine, schon ist der Andere da.

Unser normales, ethisches und moralisches Denken und die Proklamation von Werten genügt ganz offensichtlich nicht. Ich denke, Pauli hatte Recht, als er in den 1950er Jahren die Besinnung auf komplementäre Qualitäten wie das Fühlen und den Instinkt empfahl. Was aber nicht dazu führen darf, den Verstand auszublenden, das hätte nur eine neue Schieflage zur Folge.

Alle unsere Möglichkeiten, Intellekt wie Intuition, Verstand, Fühlen und Empfinden, sollten idealerweise Hand in Hand daher kommen. Aus der Physik wissen wir, dass das von Einstein, Podolsky und Rosen ausgedachte Gedankenexperiment widerlegt wurde, ganz einfach, weil es in der Quantenwelt keine lokalen Realitäten gibt, also keine feststehenden Realitäten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten.

Was viele annehmen ließ, dass die Mikrowelt der Quanten und die Makrowelt, in der wir zu leben scheinen, nicht kompatibel sind. Wer jedoch beispielsweise das Buch „Geschichte in uns“ von Jürgen Müller-Hohagen oder die Wirksamkeit eines Placebos einmal selbst erfahren hat, der weiß, dass die Welt des Möglichen nicht nur in der Mikro- sondern auch in der Makrowelt zu finden ist.

Die atomare Wirklichkeit der Quanten ist definitiv nicht lokal, es gibt ganz offensichtlich einen Zusammenhang zwischen einzelnen Objekten, die nur als Ganzheit verstanden werden können. Was aber unmöglich ist, wenn ich selbst nicht das Ganze, sondern eben nur ein Teil des Ganzen bin. Daher kann ich die Beziehung mit meiner Frau nicht verstehen, selbst wenn ich das gerne würde.

Ein Mysterium, das von mir zu akzeptieren verlangt, dass es eine andere Ansicht neben dem geben kann, was ich für richtig halte, die aber genauso richtig sein kann. Mal wieder eine Aufforderung, dialogisch zu kommunizieren. In der Gesellschaft ist der Dialog leider die Ausnahme, was sich in Gewalt und Krieg zeigt, nicht nur zwischen den Nationen, sondern auch in den Beziehungen.

Die Welt ist im Kleinsten ganz offensichtlich und im Großen sehr wahrscheinlich verschränkt, was sozusagen den Urgrund unserer Wirklichkeit ausmacht und letztlich verstehen lässt, was die Welt im Innersten zusammen hält.

Das bedeutet, dass ich in dem Moment, in dem ich über Dinge spreche oder darüber nachdenke, das Ganze in einzelne Aspekte zerlege. Das ist bei mechanischen Prozessen vollkommen in Ordnung, nicht aber bei allem, bei dem Lebendiges beteiligt ist. Das nicht zu tun, also nicht gedanklich zu fragmentieren, ist die Voraussetzung, die Dinge verstehen zu können. Auch Beziehungen kann ich verstehen – jedoch nur, wenn ich nicht darüber nachdenken und nichts in Worte zu fassen suche.

In diesem Sinne „richtig“ zu denken bedeutet also, im NichtDenken zu denken.