Unschuldig schuldig sein

Kann ich unschuldig schuldig werden? Schuld ist erst einmal nur ein Wort. Aber Wörter haben Gewicht und Wirkung. Manche mehr, manche weniger und alle auf unterschiedliche Weise.

Kurt Tucholsky sagte: „Sprache ist eine Waffe!“ Und er trifft damit den Nagel auf den Kopf. Denn das Wort Schuld ist sehr gewichtig und sehr wirkungsvoll, weil es mit einem moralischen Wert in meinem Denken gespeichert ist. Im Grunde ist es ein theologischer, religiöser Begriff. Und genau dort sollten ich ihn auch belassen. 

Beim Urteilen geht es um Schuld, bei den Fakten geht es um Verantwortung. Was ich getan habe oder tue ist Fakt. Dafür trage ich die Verantwortung. Es spielt dabei keine Rolle, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht, was es für den anderen bedeutet. Etwa wenn ich meinen Enkel mit gerade 6 Jahren sachlich belehre, was der wahrscheinlich überhaupt nicht verstehen kann, denn noch denkt er eher emotional als sachlich logisch.

Dafür trage ich unbestreitbar die Verantwortung. Doch das sagt nichts darüber aus, ob es angemessen war so zu handeln, wie ich eben handelte – oder eben nicht. Wahrscheinlich gibt es gute sachliche Gründe, dass es richtig war zu handeln, wie ich gehandelt habe. Aber war es auch richtig für ihn?

Als ich Kind war hatten wir zuhause eine Katze und einen Hund, die sich prächtig verstanden und nur zusammen schliefen. Was den Hund nicht hinderte andere Katzen zu jagen und die Katze nicht davon abhielt, andere Hunde anzufauchen. Trotzdem brauchten die beiden keine Moralüberlegungen, um beste Freunde zu sein. Und wer kennt nicht die Bilder von Eisbären, die mit Huskys spielen – einfach, weil sie gerade keinen Hunger haben und nicht nach Fressbarem suchen?

In der Natur gibt es das alles, von der freien Liebe der Bonobos bis zu dem Macho-Gehabe der Silberrücken bei den Gorillas, was aber kein Macho-Gehabe ist, sondern dem Überleben der Gruppe dient. Ich sage immer, eine Frage der Ökologie. Ein Tier weiß, was notwendig ist – und richtet sich danach. Eine Fähigkeit, die wir Menschen verloren haben, jedenfalls die meisten. Wir Menschen haben ganz offensichtlich oft nicht mehr das Bewusstsein, dass das, was wir tun, gegen das Leben verstößt, etwa wenn wir andere schädigen, verletzen oder gar töten.

Daher haben wir Gesetzte, Moral und Ethik, um dieses Defizit auszugleichen. Doch warum brauchen wir das? Ich selbst habe, wenn ich einmal zurückschaue, einfach nicht empfunden, dass das, was ich gerade tat, nicht richtig war. Die Verantwortung dafür habe ich; aber habe ich mich auch schuldig gemacht? Ist es auch zu verurteilen, obwohl ich mir überhaupt nicht bewusst war, was ich bei dem anderen anrichtete?

Wie also kann ich mich selbst davor schützen, nichts Falsches zu tun – ohne Gesetz, ohne Moral und ohne Ethik? Lange habe ich versucht, das „Problem“ mit Hilfe des Ch’an zu lösen. Was aber nicht funktionierte (!!), denn noch suchte ich die Lösung durch Verstand und Logik zu finden.

Erst als ich begann, mich im Nachhinein auf die jeweilige Situation einzulassen und zu empfinden, was da zu empfinden war, erkannte ich, was richtig war – und was nicht. Heute suche ich das gleichzeitig zu tun, also zu empfinden, was ich mit dem auslöse, was ich tue – bei dem Anderen wie bei mir. Was mir noch nicht gelingt wenn es eng wird, ich also sehr schnell handeln muss, etwa wenn ein Auto kommt und mein Enkel etwas Interessantes im Straßengraben entdeckt hat.

Aber wie sagt doch Tucholsky? „Sprache ist eine Waffe!“ Und genau das suche ich zu nutzen, indem ich meine Sprache entwaffne und grundsätzlich auf die Organisation meiner Sprache achte. Keine naturalistischen Fehlschlüsse, keine Fragmentierung, nicht von unzutreffenden Annahmen ausgehen, die Dinge sehen, wie sie wirklich sind und nicht wie ich bisher glaubte, wie sie wären.

Mit anderen Worten: Einfach korrekt denken. Idealerweise. Denn korrekt zu denken ist erst einmal ein Lernprozess und keinesfalls angeboren. Der „gesunde Menschenverstand“ denkt ja vielfach noch in Dichotomien, sieht Dinge als getrennt an, die das aber nicht sind, sondern „nur“ differenziert. Das führte zu dem Konzept einer äußeren Wirklichkeit, die unabhängig ist; eine Sichtweise, die letztlich die klassische Physik zementiert hat (und an die wohl auch noch Einstein glaubte) – die aber nicht korrekt ist.

Die Quantenmechanik wird gerne zu Hilfe genommen, um Phänomene zu erklären, für die keine Erklärungen parat stehen, was aber leicht in den Mystizismus führt. Was es braucht, ist also eine auf wirklicher Erfahrung basierende Erkenntnis  – und die bietet mir Ch’an, vorausgesetzt, ich versuche Ch’an nicht nur logisch, sondern auch emotional zu erfassen.

Als Einstein 1905 erstmals die gespaltene Natur der von ihm untersuchten Strahlen bemerkte und ihm auffiel, dass sie nicht zu ignorieren war, kam bei ihm keine Freude auf. Er meinte im Gegenteil, dass ihm und seiner Wissenschaft jeder Boden unter den Füßen weggezogen sei, dass er in ein tiefes Loch stürze, ohne zu wissen, wann sich eine neue Haltemöglichkeit bieten oder eine rettende Ebene erreicht würde. Und genau so ergeht es auch mir erst einmal, wenn ich mich auf Ch’an oder Quantenmechanik einlasse – oder auch, wenn ich mich überhaupt wirklich auf das einlasse, was ist.

Es war ganz einfach das nicht Sehen-Wollen meiner eigenen Empfindungen, das mir jede Menge Probleme einbrachte. Weil ich aber meine Empfindungen ausblendete, machte ich mich schuldig. Also suche ich meine Empfindungen und Emotionen wahrzunehmen – aber nicht dabei stehen zu bleiben. Denn erst einmal ist es nur die oberste Schicht. Auch Empfindungen wie Emotionen sind nicht wahr, sondern wollen untersucht sein.

Es ist wie mit dem „Ich“, das auch nur eine emotionale Einbildung ist. Frage ich jemanden, bekomme ich meist nur ein Schulterzucken (oder einen erstaunten Blick). „Es gibt eben kein „Ich“, nur mich“, wie Sven Walter es formuliert. Und weiter: „Aus mir ganz ohne Not und mit noch weniger Grund ein „Ich“ mit einem großen „I“ zu machen ist schlicht Unfug. Es ist ein Kapitalverbrechen, sozusagen.“

Nur wie werde ich diese Ich-Illusion (das ist es wirklich!) wieder los? Sicher nicht dadurch, dass ich das weiß, sondern alleine dadurch, dass ich meine Sprache auf andere Art und Weise organisiere; also letztlich mein Weltbild zwar mit mir, jedoch ohne „Ich“ aufbaue.