Wie wird ein Mensch fähig, Böses zu tun?

Und wie kommt er wieder in die Lage, Gutes zu tun?

Es gibt kein Gen oder physiologischen Indikator, der jemanden dazu bringen würde, herrschsüchtig oder böse zu sein. Diese Tendenz und das Bedürfnis, andere Menschen zu kontrollieren oder sie zu dominieren, ist ganz klar kulturell geprägt. Es entsteht in Familie, Umgebung und der individuellen Haltung.

Der Anthropologe und Philosoph Arnold Gehlen bezeichnet den Menschen als ein Mängelwesen. Im Unterschied zum Tier besitzt der Mensch kaum Angriffs- oder Verteidigungsorgane. Auch das Fehlen der ursprünglichen Instinkte und anderer schützender Attribute, wie zum Beispiel angemessene Körperbehaarung, machen das  menschliche Überleben in der Natur fast unmöglich. 

Im Gegensatz zu anderen Lebewesen passt der denkende Mensch sich nicht der Natur an, vielmehr sucht er die Natur den ihm lebensdienlichen Zwecken anzupassen. Nun weitgehend von einem physischen Überlebenskampf befreit, driftet der zivilisierte Mensch mehr und mehr in eine intellektuelle Überforderung, wodurch der unmittelbare Umgang mit der Natur schwindet und damit verbunden das Gefühl und instinktive Wissen für die universale und natürliche Ordnung.

Die in die Irre führende Prägung

Sich nicht mehr als Teil eines größeren Ganzen zugehörig fühlend, denkt und handelt er – in der Übersteigerung seiner Subjektivität – als ein isoliertes und getrenntes Teil, dem unendlich viele losgelöste andere Teile gegenüberstehen. Und damit ist die Vorstellung eines „Ich“ geboren, das es zu verteidigen gilt. Tatsächlich eine Illusion. Anstatt wie andere Lebewesen Mängel mit Gemeinschaftssinn auszugleichen, errichtet der Mensch schon seit langer Zeit Bollwerke, in denen er sich, seine Ängste und Unzulänglichkeiten, aber vor allem seine wahren Gefühle versteckt.

Um unsere Existenz zu sichern, haben wir uns eine Ersatznatur, eine Art zweiter Natur geschaffen – die Kultur. Und die ist geprägt von der Illusion eines „Ich“. Die Folge sind fragmentarisches Denken und damit einhergehend eine unzutreffende, verfälschte Wahrnehmung.

Was wir aufgeben, aber auch wieder gewinnen können

Indem der Mensch sich selbst und alles andere verzweckt, verliert er letztlich seine Menschlichkeit, also seine Einbindung in das natürliche Geschehen, wodurch für ihn alles Sein seine wahre Bedeutung und seinen Wert verliert. Doch was ist ein Mensch ohne Werte anderes als ein mit sich und der Welt haderndes, verzweifeltes Nichts? 

Tragischerweise haben wir unser Innerstes aus Angst vor Verletzungen verschlossen und weggesperrt. Um uns zu schützen, haben wir intellektuelle Festungen hochgezogen und sind stets dabei, diese weiter auszubauen, um unserer tiefsten Angst des kultivierten Menschen zu begegnen. Diese Angst, das ist die Bedeutungslosigkeit, der Fall ins Nichts, vor dem wir uns zu schützen suchen.

Wir sind zwar alle Menschen, doch Menschlichkeit braucht die innere Haltung des Nicht-Besonders-Sein-Wollens. Nichts Besonderes zu sein bedeutet eben nicht, bedeutungslos zu sein. Es ist die Menschlichkeit, die uns beschützt und nicht etwa umgekehrt. Alleine sie gibt uns die Sicherheit, die Souveränität und das Vertrauen in uns selbst, in andere und in die Welt. Es ist die Empathie, das uns erkennen lässt, was Richtig oder was Falsch ist. Nur wenn wir alle trennenden Schutzmauern einreißen, unsere Gefühle wieder befreien, sie entfalten und leben, befrieden wir die Welt. 

Defragmentierung

Das klingt herausfordernd, ist es jedoch nicht wirklich. Wir brauchen nur aufzuhören, im eigenen Denken zu fragmentieren. Der Psychiater Kazimierz Dabrowski hat beobachtet, dass der Geist mancher Kinder, Teenager und Erwachsener manchmal scheinbar in eine Art Defragmentierungsprozess zu geraten scheint.

Ihr Geist muss offensichtlich zusammenbrechen (natürlich nur im bildlichen Sinne), um sich anschließend auf andere Art und Weise wieder neu zusammenzufügen, nachdem sie Antworten und Erklärungen für ihre tiefsten Zweifel gefunden und ihrem Leben einen neuen Sinn gegeben haben.

Dein Geist muss mit der Funktionsweise des Universums im Einklang sein; dein Körper muss mit der Bewegung des Universums im Einklang sein; Körper und Geist sollten miteinander verbunden sein, vereinigt mit der Aktivität des Universums.

Morihei Ueshiba, Begründer des Aikido

(Selbst-) Erkenntnis

Morihei Ueshiba ist das passiert, was Dabrowski beschreibt. Er, der der Kaste der Samurai angehörte, hatte die Sinnlosigkeit seines Berufes und des Tötens erkannt und war, wenn man so will, aufgewacht oder erwacht. Doch er driftete nicht in die Verzweiflung ab, sondern erkannte, was die Welt im Innersten ausmacht. Alles, wirklich alles „funktioniert“ nach den selben Gesetzmäßigkeiten. Also müssen auch wir Menschen unseren Geist entsprechend ausrichten.

Der Geist steht für die Form, die unsere Handlungen, die Inhalte unseres Seins bedingt. Doch wie sollen wir unseren Geist ausrichten, wenn wir ihn nicht kennen, nicht kennen können? Da hilft uns die moderne Wissenschaft, das besser zu verstehen. Werner Heisenberg hatte während seines Genesungsurlaubs auf Helgoland bahnbrechende Erkenntnisse in die Zusammenhänge der Materie.

Diese Einsichten öffneten das Tor zur Weiterentwicklung zur Quantenmechanik. Doch dieses Tor war so torlos wie das Tor des Ch’an. Es ist ein Blick mit faszinierender Präzision in das Nichtbenennbare, die Welt der Kohärenz. Es ist wie in Christian Hallers Novelle „Sich lichtende Nebel“. Da geht ein Mann durch das nächtliche Kopenhagen. Er verschwindet im Dunkel, wenn er den Lichtkegel einer Strassenlaterne verlässt. Gehend taucht er im Schein der nächsten Lampe auf, bis er wieder verschwindet und unsichtbar wird.

Entstehende Wirklichkeit

Was aber ist im Dazwischen? Was genau sehen wir, und warum glauben wir an eine Wirklichkeit, deren Zusammenhänge sich tatsächlich erst in unserem Kopf herstellen? Eine Erkenntnis teilen Ch’an und die Quantenmechanik: Die Wirklichkeit ist nicht, sondern sie wird sozusagen erst einmal gedacht. Dass jeder Mensch die Welt anders sieht kann uns ganz schön ins Wanken bringen, jedoch nur, solange wir das Spiel des Lebens als vorgegeben ansehen – was bedeutet, dass es kein Spiel ist.

Wenn wir jedoch erkennen, dass wir nicht nur Darsteller, sondern auch Kulissenbauer, Regisseur und Autor des Stücks sind, das wir im Leben aufführen, dann können wir endlich in das wirkliche Spiel des Lebens einsteigen. Das beantwortet auch die Frage, wie wir aus einem destruktiven Spiel wieder aussteigen können. Ganz einfach: Wir brauchen das falsche Spiel nicht weiter mitzuspielen, sondern spielen das richtige, weil natürliche Spiel.

Zurück auf dem Marktplatz

Doch damit ist das Spiel nicht zu Ende. Es ist wie bei dem 10 Bild der Ochsenbilder oder wie bei Platons Höhlengleichnis. Nach der Erkenntnis geht der vielleicht schwierigste Teil erst los.

Wer erkannt hat, was wirklich wirklich ist, geht dann nicht einfach seiner Wege, sondern er sucht andere zu unterstützen, die diese Wahrheit noch nicht erkannt haben. Denn wie kann einer erwacht sein, solange nicht alle Menschen erwacht sind? Nur wie setzt man das um?

Der schwierige Teil liegt weniger darin, anderen zu helfen, viel herausfordernder ist, selbst nicht wieder „rückfällig“ zu werden und der Konvention anheim zu fallen. 

Nichts einfacher als das!

Ich mache es (fast) wie ein Mönch, egal ob ein christlicher, ein muslimischer, ein jiddischer oder einer des Ch’an. Die Bedeutung des Habit, also ihrer Kleidung, die interessanter Weise auch Gewohnheit bedeutet, liegt darin, dass er ein Herumwandern des Geistes verhindern soll, in dem er sich selbst immer wieder an die eigene Entscheidung erinnert.

Letztlich geht es darum, die gedankliche Zweiheit aufzuheben, das fragmentierte Denken zu beenden. Wie das Skapulier, dessen Sinn darin liegt, in Gedanken  für sich zu sein, bei sich selbst zu sein. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass „heilig zu sein“ vor allem ein anders Sein  bedeutet, das vom Profanen abgesondert.

Durch die Riten der jeweiligen Orden wird, so unterschiedlich sie sind, letztlich doch das ein und selbe angestrebt: Den Geist auf eine Sache zu konzentrieren. Es geht um Klarstellung, das heißt klar zu sehen und klar gesehen zu werden.

Die richtige Form finden

Es ist ja bekannt, dass die Form den Inhalt macht, weil ein Inhalt fast im selben Moment wieder verschwindet, in dem er entstanden ist. Ganz anders die geistige Form. Habe ich zum Beispiel „Freundlichkeit“ verinnerlicht, werde ich in jeder Situation so freundlich sein, wie es mir möglich ist, ohne dass ich noch etwas weiter überlegen müsste.

Die Form ist beständig und muss nicht immer wieder neu generiert werden. Habe ich die Form definiert,  brauche ich nur wie die Mönche eine ständige Erinnerung. Etwa die Ordnung in meiner Wohnung. Oder meine Kleidung, bis hin zur Ordnung auf meinem PC. Lässt sich ganz einfach als Stylesheet definieren – und ist so wirkungsvoll wie ein Mönchsgewandt.

Damit ist auch die eingangs gestellte Frage beantwortet, wie den Fängen einer falschen Kultur zu entkommen ist – indem eine stimmige Kultur installiert wird.