Wissen, verstehen und leben

Etwas zu wissen heißt nicht, es verstanden zu haben. Und es verstanden zu haben bedeutet auch noch nicht, es leben zu können. Wirklich bewusst wurde mir das zum ersten Mal, als ich einen Kurs über die gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg besuchte. Mir fiel auf, dass es eines war, die Regeln der GfK zu kennen und vielleicht auch verstanden zu haben, es jedoch etwas anderes war, sie auch tatsächlich anwenden zu können, also wirklich zu leben.

Das Tor zum wirklichen Verständnis der GfK öffnete sich mir erst, als ich das Buch von Rosenberg über die spirituellen Grundlagen seines Konzeptes gelesen hatte. Das passierte mir auf einer ganz anderen Ebene wieder, als ich Motorradfahren lernte. Manche Anweisungen meines Fahrlehrers hatte ich schon verstanden, nur das auch selbstverständlich anzuwenden – schwierig.

Das ging immer erst dann, wenn ich es verinnerlicht hatte, die mentale Anweisung also auch körperlich umsetzen konnte. Ich denke, das ist nichts anderes als bei der GfK. Was ich nicht verinnerlicht habe, kann ich zwar wissen und habe es vielleicht auch verstanden, doch es anwenden zu können, das ist ein anderes Thema. Beim Motorradfahren bekomme ich nur ein direktes und unverfälschtes Feedback, was ich sonst nur von sehr guten Freunden und dann auch nicht immer bekomme.

Vielleicht liegt es daran, dass mir das Motorrad nur sagt, was ich gerade mache, das aber nicht kommentiert und schon lange nicht sagt, was ich statt dessen machen sollte. Da muss ich dann schon selbst draufkommen. Vielleicht ist das das Geheimnis eines guten Coachings? Dass ein solcher Coach einem nur spiegelt, was man gerade macht, einem aber nicht sagt, wie man es machen sollte?

Die Frage, die sich mir dabei aufdrängt ist, welche Rolle dabei mein Verständnis von Wirklichkeit spielt. Gehe ich davon aus, dass die Welt ganz anders ist als ich bisher dachte, lebte ich dann in einer Illusion – oder in einer Fiktion? Eine Illusion ist ist eine falsche Wahrnehmung der Wirklichkeit; eine Fiktion kommt ja von von fingere, was „gestalten“, „formen“ und „sich ausdenken“ bedeutet. Damit ist also die Schaffung einer eigenen Welt durch den Umgang mit einer gedachten Welt gemeint.

Bedenkt man, dass es sich bei der Fiktion um eine Kulturtechnik handelt, die leider nicht nur in weiten Teilen der Kunst zum Einsatz kommt und wenn ich mir das „kultivierte“ Leben um mich herum anschaue – und worin ich ja auch lebe –, dann sage ich, es ist eine Fiktion.

Dann weiß ich auch, dass ich die Welt nicht unzutreffend wahrnehme, sondern unzutreffend denke. Das ist auch so wenn ich bemerke, dass ich eine vollkommen unzutreffende Vorstellung von meiner eigenen Wahrnehmung habe. Wo ich früher dachte, dass ich beobachte, schaue ich tatsächlich nur (!!), ob da etwas anders ist als bisher.

Es geht also um die Interpretation meiner Wahrnehmung, nicht um den Vorgang der eigentlichen Wahrnehmung. Würde ich beim Motorradfahren sofort feststellen, was mein Fahrlehrer anders macht als ich, statt mich zu fragen, was ich falsch mache, würde ich es vielleicht – oder sogar wahrscheinlich – schneller lernen.

Doch da sitzt wohl die Kröte. Will ich etwas verstehen, nur um es letztlich kontrollieren zu können? Bräuchte ich den Satz in der Überschrift einfach nur umzuformulieren in „verstehen und leben“, ohne etwas „wissen“ zu wollen? Und bräuchte es auch das zu verstehen und das zu leben nicht, wenn ich mich einfach einlassen, mich fallen lassen würde?

Natürlich setzt auch das Wissen und Verständnis voraus, aber kein verstehen und wissen Wollen. Ich finde, irgendwie sagt das auch Soho Takuan, nur viel kürzer, direkter:

„Verfestigt sich der Geist an einem Ort und verweilt in einem Ding, so ist er wie gefrorenes Wasser und nicht mehr in jeder Weise zu benutzen – Eis, das weder Hände noch Füße waschen kann. Wird der Geist geschmolzen und wie Wasser verwendet, im ganzen Körper gegenwärtig, so kann man ihn lenken wohin man will.

Aber wahrscheinlich will ich das noch verstehen und begreifen und lasse mich noch nicht wirklich fallen. Was letztlich auf das Bedürfnis nach Kontrolle hinweist, ist doch festhalten eine deutliche Art der Kontrolle.